Weltrekord in 1,779 Sekunden von 0 auf 100 km/h

Der Autokritiker Jacob Jacobson

puristisch - kritisch - anregend

 

 

Von Null auf 100 km/h in 1,779 Sekunden - eine Sensation?

 

 

1,779 Sekunden von 0 auf 100 km/h

Neuer Rekord für rein elektrisch betriebene Fahrzeuge, den das E-Formula-Student-Team der Uni Stuttgart aufstellte.

Zitat ams

Die Medien sind begeistert. Nur 1,779 Sekunden von 0 auf 100 km/h, noch dazu für ein Elektrofahrzeug. So sensationell dieser Wert in den Ohren von technischen Laien oder Journalisten auch klingen mag, eine genauere Betrachtung relativiert die Bedeutung. Und genau diese Betrachtung wollen wir hier anstellen.

Als Basis für das Rekordfahrzeug dient ein Fahrzeug der Formula-E-Student. Der Formula-E-Student-Wettbewerb existiert schon seit einigen Jahren. Wie der Name schon sagt, werden die Fahrzeuge von Studenten aus Unis und Fachhochschulen aus ganz Europa entwickelt und gebaut. Beim Wettkampf selbst werden unterschiedliche Prüfungen verlangt: Slalom, Verbrauch, Reichweite, Beschleunigung, Bremsweg usw. Das strenge Reglement und die Anforderungen führen dazu, dass die meisten Fahrzeuge Allradantrieb mit Schlupfregelung, ein leichtes Chassis, einen kurzen Radstand und eine breite Spur besitzen. Einheitliche Rennreifen ergänzen das Paket. So ausgestattet ähneln sich die Fahrzeuge wie ein Ei dem anderen.

 

Eines der wichtigsten Kriterien, vielleicht sogar das Wichtigste ist die Beschleunigung. Exakt aus diesem Grund eignen sich diese Fahrzeuge hervorragend als Ausgangsbasis für Beschleunigungsrekorde. Wenn dann noch alle Anforderungen bis auf die Beschleunigung von 0 auf 100 km/h wegfallen, eröffnet das einige zusätzliche Freiräume.

 

  • Der Wegfall von Slalom und Bremsweg ermöglicht Gewichtserleichterungen an Chassis, Fahrwerk und Bremsen.
  • Die ohnehin schon niedrige Höchstgeschwindigkeit wird weiter abgesenkt auf etwas über 100 km/h. Dadurch verkleinert sich der Arbeitsbereich der Elektromaschinen, und sie können bei gleicher Leistung auf ein höheres Drehmoment ausgelegt werden.
  • Kühlmaßnahmen an Motoren und Leistungselektroniken erübrigen sich. Im Ernstfall legt man zwischen den Rekordversuchen einfach eine längere Pause ein. Die kurze Versuchszeitzeit lässt sogar einen Betrieb mit Überspannung zu, um das Letzte aus den Komponenten herauszuholen.
  • Verbrauch und Effizienz spielen keine Rolle. Entscheidend ist einzig die Leistung an den Rädern.
  • Statt Batterien verwendet man Supercaps. Die Kondensatoren sind erheblich leichter als Batterien. Anders als die Batterien sind sie unempfindlich für hohe Leistungsabgaben. Die gespeicherte Energie reicht für einen Beschleunigungsversuch völlig aus, anschließend sind die Supercaps in wenigen Sekunden wieder aufgeladen.
  • Der Schlupf an den Rädern wird softwareseitig auf maximale Traktion eingestellt.
  • Schließlich kann man die Reifen vorkonditionieren, entweder indem man sie mit Heizdecken aufwärmt, oder durch sog. Burnouts wie beim Drag-Racing. Burnouts haben zudem den Vorteil, dass sie auf dem Asphalt eine Gummischicht hinterlassen, die gut ist für den Reibwert.
  • Hinters Steuer setzt sich die leichteste Person aus dem Umfeld. Rennerfahrung ist nicht vonnöten. Es reicht, das Fahrpedal schnell und vollständig runterzudrücken und knapp zwei Sekunden geradeaus zu fahren.

 

Wie hoch sind eigentlich die Anforderungen an die Leistung? Laut Bericht im Internet wiegt das Fahrzeug ca. 150 kg, die Fahrerin 50 kg, macht zusammen 200 Kilogramm. Eine Beschleunigung von 0 auf 100 km/h in 1,779 Sekunden ergibt eine durchschnittliche Beschleunigung von 15,6 m/s², das entspricht der 1,6-fachen Erdbeschleunigung.

Die kinetische Energie errechnet sich aus Masse und Endgeschwindigkeit. Sie beträgt 77,4 kWs. Um diese Energie in 1,779 Sekunden zu erzeugen, benötigt man durchschnittlich ca. 43,5 kW bzw. 60 PS. Diese simple Rechnung liefert leider ein völlig falsches Bild. In Wirklichkeit liegen Welten zwischen einer Beschleunigung von 0 auf 10 km/h und von 90 auf 100 km/h. Das folgende Diagramm verdeutlicht diesen Zusammenhang.

 

Leistung über Geschwindigkeit ohne Luftwiderstand gerechnet

 

Die vier Elektromaschinen bringen insgesamt 136 PS/102 kW auf die Straße. Wenn man bei obigem Leistungsdiagramm den Luftwiderstand noch hinzunimmt, erkennt man, dass im oberen Geschwindigkeitsbereich die Leistung für die geforderte Beschleunigung knapp ausreicht. Im unteren Geschwindigkeitsbereich hingegen ist Leistung im Überfluss vorhanden. Die Beschleunigung in diesem Bereich ist eindeutig vom Reibwert zwischen Reifen und Fahrbahn bestimmt. Wir stellen also fest, dass der Reifenreibwert eine ganz dominante Rolle spielt. Nur mit Reibkoeffizienten von mindestens 1,5 lässt sich das Vorhaben erfolgreich verwirklichen.

Das Video der Rekordversuche im Internet lässt den Schluss zu, dass das Team sich dieser Tatsache bewusst war und entsprechend reagierte. Z.B. beobachtet man beim Start des Fahrzeugs eine starke Rauchentwicklung an den Hinterrädern, eine Form von Burnout.

 

Vermutlich wird das Fahrzeug an den Vorderrädern festgebremst, während die Hinterräder bereits durchdrehen. Die Messung beginnt, sobald sich die Bremse löst und das Fahrzeug sich in Bewegung setzt. Das Festbremsen der Vorderräder kann über die Motoren an den Vorderrädern elektronisch geschehen, ohne dass der Fahrer eingreifen muss. Der Fahrer gibt lediglich Vollgas/Vollstrom, und nach wenigen Zehntelsekunden schalten die Vorderräder automatisch von Bremsen auf Antrieb, und das Fahrzeug setzt sich in Bewegung. Ab da ist es Aufgabe der Regelung, die Räder immer im optimalen Bereich der Schlupfkurve zu halten.

Auffallend sind voluminöse Spoiler vorn (und hinten?). Sie sorgen für hohen Anpressdruck an den Rädern zumindest bei den höheren Geschwindigkeiten. Das steigert die übertragbare Leistung.

 

Das Ganze ist also kein Hexenwerk. Wie könnte man nun diesen Rekord knacken? Vermutlich nur, wenn man Anleihen bei professionellen Drag-Racern nimmt, und sich vom EFS-Design verabschiedet.

Die Top-Dragster zeichnen sich durch eine extrem hohe Hinterachslast aus. Die Vorderräder in der Dimension von Fahrradreifen sind weit nach vorne gezogen. Sie heben beim Beschleunigen ab, sodass die ganze Fahrzeugmasse auf den Hinterrädern lastet. Die dynamische Achslastverlagerung ist so hoch, dass hinten an den Dragstern ein Überschlagschutz zwingend angebracht sein muss. Die Spur ist ganz schmal, damit durch leicht unterschiedliche Reibkraft links/rechts möglichst wenig Giermoment entsteht.

Dieses Design kann man natürlich auf Elektrofahrzeuge übertragen. Man setzt einen Elektromotor mit einem Wellenabgang auf jeder Seite zwischen die beiden Hinterräder. Auf Differential oder Einzelradregelung kann man verzichten. Die Profi-Drag-Racer erreichen nach 1 Sekunde bereits Geschwindigkeiten über 100 km/h. Das sollte mit Elektroantrieb ebenfalls möglich sein, zumindest theoretisch.

 

 

16.08.2015 Jacob Jacobson

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