Der Autokritiker
Jacob Jacobson
puristisch - kritisch - anregend
Neue Mercedes E-Klasse: "DAS SCHLAUESTE AUTO DER WELT" (laut AutoBild)
Was ist das Wichtigste heute bei einem Auto? Dreimal dürfen Sie raten.
Die Prioritäten haben sich gewaltig verschoben. Kein Hersteller kann es sich noch erlauben, vom Mainstream abzuweichen. Damit würde er sofort bei der Zulieferindustrie gegen die Wand laufen, denn die bestimmt inzwischen zu 90 Prozent, was in den Fahrzeugen verbaut ist. Seien es Getriebe, Bremssysteme, Klimaanlagen, Nocken- und Ventilverstellungen, Turbolader, Einspritzanlagen und dergleichen. Jeder noch so kleine Unterschied geht sofort richtig ins Geld. Deswegen sind die Fahrzeuge in ihrer jeweiligen Klasse austauschbar. Manchmal reicht schon ein Abnehmen der Firmenembleme, und man kann sie nicht mehr unterscheiden.
Aber wie wollen sich die Hersteller noch differenzieren, wenn alle schon alles haben, und noch dazu in identischer Ausführung? Antwort: Mit Assistenzsystemen und Vernetzung (auf Neudeutsch Connectivity). Auf beides fahren die Journalisten voll ab. Damit füllen sie viele, viele Seiten. Denn ihrer Meinung nach (oder besser gesagt der Redaktionsmeinung nach) handelt es sich um lauter erstrebenswerte "Helferlein", die einem das Fahren erleichtern sollen und - ganz wichtig - vor Unfällen schützen. In der Veröffentlichung dieser "intelligenten" Fahrhilfen versucht jeder Autohersteller der Erste zu sein, wohl wissend, dass es oftmals nur wenige Wochen oder Tage dauert, bis der Wettbewerb haargenau dieselben Features präsentiert, wenngleich auch unter anderen phantasievollen Namen. Denn auch hier hängt der Stand der Technik an den Lieferanten, und die beliefern eben nicht nur eine einzige Marke.
Einen guten Beweis für diese Behauptungen liefert Mercedes mit der neuen E-Klasse. Mercedes setzt alles daran, als der Hersteller mit den weitreichendsten Assistenzsystemen in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Sie packen alles was machbar erscheint in die neue E-Klasse und hoffen, durch die schiere Anzahl zu beeindrucken. Dankbar greift die Presse dieses Seiten-Füllmaterial auf. In Großbuchstaben steht es auf der Titelseite und mit ungebremster Euphorie geht es innen weiter. Zitat:
"Willkommen in der Welt von morgen! Die beginnt 2016. Dann startet die neue Mercedes E-Klasse. … Die neue E-Klasse soll bis 200 km/h fast von selbst fahren und allein parken können. AUTO BILD kennt die zehn Technik-Highlights."
Die sollte man sich einmal genauer anschauen, bevor man beeindruckt auf die Knie sinkt wie der AutoBild-Journalist.
Drive-Pilot
Allein der Name erweckt schon Anklänge an das pilotierte Fahren. Aber ganz so weit sind wir noch nicht. In Wirklichkeit handelt es sich dabei um eine Weiterentwicklung des Abstandsregeltempomaten. Er funktioniert jetzt bis 200 km/h (vorher 160 km/h) und auch in der Kurve.
Wenn der Vorausfahrende einen flotten Fahrstil pflegt, und der Mercedes-Pilot nicht die fahrerischen Qualitäten aufweist, ihm zu folgen, übernimmt der Autopilot. Auf Autobahnen mag das noch eine gewisse Berechtigung haben. Wenngleich die Möglichkeiten, auf Autobahnen schneller als 180 zu fahren dramatisch weniger werden. Auf Abschnitten mit engen Kurvenradien herrscht ohnehin Geschwindigkeitsbeschränkung. Da stellt sich gleich die Frage: Hält sich der Mercedes an Tempolimits, wenn der Vorausfahrende sie überschreitet. Er würde dann seinen Bezugspunkt verlieren und muss sich einen neuen suchen oder an den Straßenbegrenzungen orientieren.
Wie sieht dasselbe Spielchen auf der Landstraße aus? Bremst der Mercedes bei 100 km/h ab? Findet der Autopilot immer und überall die richtigen Markierungen? Kann der Fahrer getrost die Hände in den Schoß legen oder muss er konzentriert den Autopiloten überwachen? Wenn es zu einem Unfall kommt, wie sieht dann die Rechtslage aus? Manch einer hätte bei diesen Gedanken keine ruhige Minute hinter dem Steuer.
Noch ein Ärgernis im Zusammenhang mit dem Abstandstempomaten. Beim Fahren auf Österreichischen Autobahnen mit Tempo 130 kommt es nicht selten vor, dass einem ein Fahrzeug am Heck klebt wie eine Klette. Zwar im vorgeschriebenen Sicherheitsabstand, aber man kann es nicht abschütteln. Man fährt kurzzeitig schneller - der Wagen folgt. Man geht vom Gas und hofft, die Zecke wird gleich überholen. Nichts da! Ungerührt bleibt er dran. Das kann einem ganz schön auf die Nerven gehen.
Aktiver Bremsassistent
Er soll Kollisionen vermeiden oder zumindest Auswirkungen reduzieren. Seine Aktivität erfolgt in drei Stufen: 1. Warnung; 2. Verstärkung Fahrerbremskraft; 3. Autonome Vollbremsung. Der Fahrer braucht sich jetzt in der Kolonne nicht mehr um den richtigen Abstand zum Vordermann zu kümmern, sondern kann sich seelenruhig den vielfältigen Möglichkeiten von Telefon, Internet, Klimatisierung und Navisystem widmen. Oder er kann noch dichter auffahren als es die meisten ohnehin schon tun, denn das System bremst mindestens genauso gut wie der Vordermann - hoffentlich. Außerdem erkennt der Wagen bis 70 km/h Fußgänger und leitet auch hier die drei Schritte ein (anstatt sie einfach zu überfahren?). Das System nimmt dem Chauffeur die Sorge um die lästigen Zebrastreifen ab - eine enorme Entlastung (Achtung: Ironie).
Aktiver Spurhalteassistent
Will der Fahrer die Spur wechseln, warnt ihn diese Funktion vor Fahrzeugen auf der Parallelspur und auch vor entgegenkommendem Verkehr. Im Grunde eine Erweiterung des bereits bekannten Spurhalteassistenten. Sich vergewissern, ob die Nachbarspur frei ist durch Rückspiegel oder Umschauen - Schnee von gestern. Funktioniert allerdings erst ab 60 km/h. Bei dichtem Stadtverkehr wäre der Assistent vermutlich permanent im Warnmodus.
Ausweich-Lenk-Assistent
Zitat: "Viel schlimmer geht es kaum. Plötzlich taucht in der Stadt ein Fußgänger vor dem Fahrzeug auf. … hilft das System mit gezielten Lenkimpulsen beim Ausweichhaken."
So stellt sich der nichtsahnende Journalist das Szenario vor. Wahrscheinlich hat er selbst schon reichlich Erfahrung gesammelt was passiert, wenn man mit SMS oder Internet beschäftigt ist, und die Verkehrssituation und den Straßenrand nicht mehr im Blick hat. Guckt man hoch, steht urplötzlich ein Fußgänger auf der Fahrbahn. Wo der so plötzlich herkommt? Kein Problem, der Ausweichassistent regelt das (und überfährt stattdessen einen Radfahrer?).
Car-to-X-Communication
Die Mercedes Cloud weiß immer, wo sich ihre Schäfchen befinden. Havariert oder verunfallt eines ihrer Schutzbefohlenen, sendet sie eine Nachricht an alle in der Nähe befindlichen. Dasselbe passiert bei Starkregen, Schnee und Eis. Endlich kann man unübersichtliche Kurven mit vollem Tempo nehmen, man weiß, dass dahinter alles frei ist. Aber halt, das stimmt so nicht. Traktoren, Radfahrer und Fremdfabrikate werden nicht erfasst. Dumme Frage am Rande: Seit wann bleiben Mercedes Fahrzeuge liegen?
Multibeam LED
84 LEDs pro Seite statt bisher 24. 100mal pro Sekunde errechnet das System die beste Lichtverteilung. Den entgegenkommenden Fahrern kann es nur recht sein, wenn Mercedes Fahrzeuge ausnahmsweise abblenden. Ein Blinker, den man auch bei hellem Sonnenschein eindeutig erkennen kann, wäre für die Allgemeinheit die bessere Investition.
Park-Pilot
Nein, es geht nicht darum, den Central Park oder den Englischen Garten automatisch anzusteuern zwecks Erholung von den vielen Assistenten. Es geht darum, das riesige Schiff auch in einen engen Hafen zu manövrieren. Autonom versteht sich. Hoffentlich hat der Akku im Smartphone genügend Saft, um aus der Parlücke wieder herauszusteuern.
Ein paar Fragen drängen sich zu diesem Feature auf. Kann man das links neben dem Mercedes stehende Fahrzeug noch entern? Was machen der Mercedes Fahrer und seine Begleiter während des Einparkvorganges - auf der Straße stehen und sich überfahren lassen? Wie kann man anderen Verkehrsteilnehmern vermitteln, dass man gleich einparken wird, wenn man stehen bleibt, aussteigt, sein Smartphone zückt und anfängt, darauf einzutippen? Viel Verständnis muss man da nicht erwarten.
Wäre es nicht geschickter, das Fahrzeug an passender Stelle zu verlassen und allein auf Parkplatzsuche zu schicken? Um es bei Beendigung des Termins automatisch wieder herzubestellen, auf Pfiff wie ein dressierter Gaul? Keine Sorge, auch dieses Feature wurde schon angedroht, äh, angekündigt.
Straßenschild-Erkennung
Oft fragt man sich, ist die Geschwindigkeitsbeschränkung aufgehoben oder nicht? Befinde ich mich schon in der Ortschaft? Welches Tempolimit ist gerade angesagt? Herrscht hier Tempo 30? Diese Fragen beantwortet die Schild-Erkennung. Die Schilderkennung kombiniert mit dem aktiven Tempomaten, der die erlaubte Geschwindigkeit selbsttätig einregelt, das wäre mal ein echter Fortschritt für Mercedes-Herrenfahrer. Natürlich nur, wenn der Steuermann schneller fahren will als erlaubt. Fährt er ohnehin langsamer (auch das soll vorkommen), passiert gar nichts.
Resümee
Wow, da ist Mercedes auf dem Weg zum betreuten Fahren ganz schön vorangekommen. Hoffentlich kommt die schon etwas betagtere Kundschaft damit zurecht. Immerhin beträgt das Durchschnittsalter der E-Klasse Käufer knapp 60 Jahre. Das ist nicht gerade die Generation Facebook mit deren Multitasking-Fähigkeiten. Hoffentlich sind die "Oldies" mit der Vielzahl an Eingriffen und Warnhinweisen nicht überfordert.
Die größte Gefahr bei allen ach so hilfreichen Assistenzsystemen schlummert allerdings in der Risiko-Homöostase. Das heißt im Klartext in der Kompensation oder sogar Überkompensation eines echten oder vermeintlichen Zugewinns an Sicherheit durch erhöhte Risikobereitschaft. Mercedes-Fahrer könnten und werden das Angebot als Rundum-Sorglos-Paket begreifen und sich entsprechend verhalten. Außerdem bedeuten viele Funktionen zusätzliche Freiheitsgrade in der Fahrzeugführung, die bequem für andere Dinge genutzt werden können - hauptsächlich für telefonieren, simsen, Emails checken und Internet-surfen. In Summe steht eher eine erhöhte Unfallgefahr zu befürchten.
Auch der Journalist gibt sich abschließend skeptisch, immerhin. Er stellt die berechtigte Frage: "Brauchen wir das alles wirklich?" Dem kann man nur beipflichten. Wer gut und viel Auto fährt, braucht es nicht. Wer wenig und unsicher fährt, dem nützt es nichts. Über eines muss sich der Nutzer im Klaren sein. Wenn ein Unfall passiert, schuld daran ist NIE das System. Soweit kann man sich auf die Juristen von Mercedes Verlassen. Lesen Sie das Kleingedruckte.
Jakob Jacobson 14.07.2015
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