VW XL1: Geniestreich oder Armutszeugnis?

Der Autokritiker

Jacob Jacobson

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VW XL1: Geniestreich oder Armutszeugnis

 

"Was lange währt wird endlich gut." So lautet ein Sprichwort. Trifft das immer und überall zu? Z.B. beim VW XL1, dem technischen Wunderwerk? Lange genug gedauert hat es ja. Im Jahre 2002 nach Christi Geburt fand die legendäre Fahrt statt, bei der der visionäre und geniale Ferdinand Piëch die Fahrt von Berlin nach Hamburg unter 1 Liter/100km absolvierte. Mit Bernd Pischetsrieder auf dem Rücksitz. Anschließend lehnte sich Piëch mächtig weit aus dem Fenster, indem er eine Serienausführung in Aussicht stellte. Die steht nun auf der Straße.

Heraus kam eine Demonstration des technisch Machbaren ohne Rücksicht auf den Aufwand. Getreu dem Motto: Um Kraftstoff zu sparen ist uns nichts zu teuer. Die große Frage aber lautet: Erreicht das Produkt die Ziele bei Verbrauch, Serienfertigung und Alltagstauglichkeit?

 

Die Serienfertigung:

Dieser Punkt ist schnell abgearbeitet. 200 Stück werden gebaut. Um da von einer Serie zu sprechen, muss man den Begriff schon arg strapazieren. Allein die Zahl der Prototypen eines neuen Golf oder Polo liegt weit darüber. Die geringe Stückzahl hat seinen Grund. Eigentlich sogar mehrere. Die Herstellung der handgefertigten Einzelteile ist extrem aufwendig. Aus dem vielzitierten VW-Baukasten kann man sich nicht bedienen, höchstens bei Schaltern, Anzeigen und sonstigem Krimskrams.

 

Der Preis:

Der Verkaufspreis von 111.000 Euro hat eher symbolischen Charakter. Der Herstellpreis überschreitet ihn bestimmt um das Dreifache. Der Umgang mit dem Fahrzeug ist problematisch. (Siehe Absatz "Alltagstauglichkeit") Das Fahrzeug wird deshalb nur an handverlesene Kunden weitergereicht. Reklamationen bleiben somit "in der Familie". Es wäre ohnehin schwierig, bei diesem Preis-Leistungs-Verhältnis genügend Abnehmer zu finden. Vielleicht kann Piëch einige davon seinen zahlreichen Nachkommen aufs Auge drücken?

 

Der Verbrauch:

Bereits beim wichtigsten Kriterium scheiden sich die Geister. Wie ist das Fahrzeug überhaupt einzuordnen? Ist es ein Elektrofahrzeug mit Range Extender oder ein Diesel als Plug-In-Hybrid? Je nachdem. So genau wissen das selbst die VW-Leute nicht. Man kann das Fahrzeug so oder so oder anders betreiben, und dabei den jeweiligen Verbrauch bestimmen.

 

Verbrauch Elektrofahrzeug:

ams (auto motor und sport) ermittelt einen Verbrauch von 10,9 kWh auf 100 Kilometer, sparsam gefahren. Das ergibt einen Bedarf an Primärenergie vom Kraftwerk bis zur Straße von ca. 40 kWh. (Mit heutigem Strommix gerechnet. Mit den Wirkungsgraden befasst sich ein späterer Beitrag.)

 

Verbrauch Dieselfahrzeug mit/ohne Range Extender:

Mit leerem Akku als reines Dieselfahrzeug betrieben schluckt der XL1 satte 2,7 Liter auf 100 Kilometer, oder anders ausgedrückt 26 kWh.

Dieselmotor mit Range Extender: 60 Prozent Diesel plus 40 Prozent elektrisch ergeben einen Verbrauch von rund 33 kWh auf 100 km.

Eine herbe Enttäuschung! Wo ist der eine Liter geblieben? Antwort: Auf dem Papier bzw. auf dem Prüfstand. Die Ermittlung der ECE-Verbräuche von Plug-In-Hybriden ergibt abenteuerlich niedrige Werte. In diesem Fall 0,9 Liter Diesel auf 100 km. Die zusätzliche elektrische Energie von 7,2 kWh zählt nicht, denn sie "kommt ja aus der Steckdose" und nicht aus dem Tank. Selbst ams und AutoBild haben diese Methode schon als Schwindel angeprangert.

 

Die Fahrleistungen:

Stimmen wenigstens die Fahrleistungen? Das zweizylindrige Diesel-Motörchen leistet 35 kW/48 PS. Es muss die Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h alleine halten können. Die Elektromaschine mit 20 kW/27 PS hilft nur kurzzeitig beim Beschleunigen. Bis 100 km/h vergehen volle 11,9 Sekunden. Bei der Höchstgeschwindigkeit kann man noch ein Auge zudrücken, bei der miserablen Beschleunigung hört der Spaß auf. Die Elektromaschine ist eindeutig unterdimensioniert. Für eine standesgemäße Beschleunigung von 8 s auf 100 km/h müsste sie mindestens 50 PS abgeben. Andernfalls fahren einem selbst Kleinwägen vom Schlage eines Mini Cooper D um die Ohren.

 

Die Alltagstauglichkeit:

Kann man überhaupt von Alltags-Tauglichkeit sprechen? Müsste es nicht vielmehr Untauglichkeit heißen? Richtig, und zwar aus vielen Gründen.

 

Parkraumbedarf:

"Schon wegen seiner geringen Größe ist der XL1 ein perfektes Stadtauto." So steht es tatsächlich im Testbericht der ams 19/2014. Man muss den Satz mindestens zweimal lesen um es zu glauben. Aber die geringe Größe stimmt doch, oder? Ja, sie stimmt. Doch Größe ist nicht alles. Man muss in einer engen Parklücke oder in der Garage auch noch die Türen öffnen können. Versuchen Sie das einmal beim XL 1.

 

Ein- und Ausstieg:

"Am besten bugsiert man seinen Hintern zuerst hinein und zieht dann die Beine nach." So steht es in ams. Kommentar überflüssig.

 

Übersicht:

Nach hinten Null, nach vorne schaut man in die Röhre (vulgo Auspuff des Vordermanns). Witzig: Monitore statt Außenspiegel. Den Straßenverlauf kann man nur ungefähr erahnen.

 

Wendekreis:

10,3 Meter. Knapp kleiner als ein Polo (10,5 m), größer als ein i3 (10,0 m). Note ausreichend.

 

Reichweite:

Mit einem Durchschnittsverbrauch von drei Litern/100 km auf der Autobahn bei 150 Sachen dahinschnurren, das wäre doch der richtige Betriebsmodus. Leider schafft man mit 10 Litern Tankinhalt nur 330 Kilometer. Nach 300 Kilometern sucht man schon verzweifelt die nächste Tankstelle.

 

Kofferraum:

Einen Raum von 120 Litern als "Kofferraum" zu bezeichnen ist reichlich weltfremd. Immerhin, zwei Handgepäckstücke von je 44 Litern bringt man unter. (Z.B. auf der benzinsparenden Fahrt zum Flughafen, um dann tonnenweise Kerosin abzufackeln.)

 

Geräusch:

Noch ein Zitat aus ams: "Der Verbrennungsmotor rappelt vernehmlich." Was soll der Zweizylinder auch sonst machen, in einer Karosserie wie ein Geigenkasten.

 

Bordsteinkompatibilität:

Ein schreckliches Wort. Aber eine notwendige Eigenschaft, die bei jedem Stadtfahrzeug unabdingbare Pflicht ist. Beim XL1 Fehlanzeige.

 

Verfügbarkeit:

2,5 Stunden an der Steckdose dauert eine Vollladung. Aber kein Problem, man kann ja mit Diesel fahren.

 

Wintertauglichkeit:

Wie gut die Heizung über das kleine Dieselmotörchen funktioniert, kann man sich lebhaft vorstellen. Und elektrisch fahren ist im Winter auch keine gute Option, außer man hat eine beheizte Garage.

 

Lenkkräfte:

Ein Stadtfahrzeug ohne Servolenkung? Da spart man sich den Besuch im Fitness-Studio.

 

Die Fahrdynamik:

Fahrdynamischen Wunderwerten stehen die schmalen Reifen im Wege. In den Kurven quietscht es viel zu früh, und ein Bremsweg von 41,3 Metern aus 100 km/h ist auch keine Offenbarung. (Mit kalten Bremsen, denn eine Warmmessung erfordert ein 10-maliges Runterbremsen aus 100 km/h, was weder den Bremsen noch den Reifen gut tut. Abgesehen davon: Das 10-malige Hochbeschleunigen aus dem Stand überfordert den Elektroantrieb definitiv.)

 

Die Zielgruppe:

Wer kauft sich denn sowas?

- Umweltbewusste Menschen? Die fahren Rad oder ÖPNV.

- Junge Menschen? Die können ihn sich nicht leisten.

- Familien mit mehr als zwei Personen? Die haben nicht Platz.

- Rentner? Die kommen erst gar nicht hinein.

- Pendler? Die können nicht parken, weder in der eigenen Garage noch im Parkhaus.

 

Voraussetzungen:

Welche Voraussetzungen sollte man mitbringen:

- Eine Garage, hoch genug und breit genug für die Flügeltüren.

- Einen Zweitwagen für das Alltagsgeschäft.

- Einen Drittwagen für die Reise.

- Ein stattliches Bankkonto ( Preis 111.000 Euro).

- Ein dickes Fell gegenüber den mitleidigen Blicken der Passanten.

 

Die Presse:

Die Journalisten halten sich mit Kritik auffällig unauffällig zurück. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. (Z.B. an den Werbeetat von VW.) Sie versuchen krampfhaft, dem XL1 ein paar positive Aspekte abzugewinnen. Wie viele Leser haben schon die Möglichkeit, die Aussagen zu überprüfen?

 

Alternativen:

Auf der Suche nach Alternativen bewegen wir uns zunächst von Wolfsburg nach München. Dort warten zwei ähnliche Produkte auf Kundschaft, die BMWs i3 und i8. Für den Preis eines XL1 bekommt man bei BMW drei i3, nur der i8 spielt preislich in der gleichen Liga. Über deren Stärken und Schwächen berichten wir in einem der nächsten Beiträge.

 

Alternativen zum XL1:

Weitere Alternativen begegnen uns auf einer Reise in die Schweiz und die Vereinigten Staaten. Auch darüber berichten wir demnächst.

Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah? Im Archiv des eigenen Hauses schlummern die Baupläne des Audi A2. Er ist bis heute unübertroffen in den Kriterien Verbrauch, Alltagstauglichkeit und Langlebigkeit. Leider misstrauen junge Ingenieure grundsätzlich dem Althergebrachten. Deshalb erfinden sie regelmäßig das Rad neu, wodurch es aber nicht runder wird.

 

Die Zukunft:

Was lernen wir von diesem Fahrzeug?

- Dass so die Zukunft des Automobils aussieht? Doch wohl eher wie die Zukunft nicht aussieht - hoffentlich.

- Dass es nicht gelingt, ein echtes serientaugliches 1-Liter-Auto zu bauen? Allen Anstrengungen der Ingenieure zum Trotz.

- Dass sich VW eine milliardenschwere Fehlinvestition leisten kann? Und eine Blamage obendrein?

 

Fazit:

Was ursprünglich als Geniestreich begann, es endet als Desaster, als Armutszeugnis, als Versagen deutscher Ingenieurskunst. Dass es so kommt, hätte man mit primitiven Simulationen voraussehen können. Aber was Ferdinand Piëch will, das bekommt er auch. Es ist schließlich nicht das erste Milliardengrab dieses "genialen" Ingenieurs.

"Alltagstauglichkeit und Kosten entscheiden über den Erfolg von alternativen Antriebskonzepten."

So steht es in einem Buch über alternative Antriebe. Wer hätte das gedacht? Alle Visionäre sollten sich diesen Satz hinter den Spiegel stecken, auch die Herren Piëch und Winterkorn. Vielleicht ersparen sie uns dann zukünftig so peinliche Ausrutscher wie den XL1.

 

 

Jacob Jacobson 02.05.2015